Montag, 26. Juni 2006

abendmahl

Ich musste wohl eingeschlafen sein, ich weiß nicht, wie lange. schwester hildegard stand wieder im zimmer. es sei nun essenszeit, und ob ich nicht etwas hätte, womit ich mein kahlgeschorenes haupt bedecken könne. schließlich sei man hier nicht in einem lager und gebe es sehr wohl einige seelisch derart instabile mitbewohner; schon die kleinste aufregung und wochen der rekonvaleszens seien vergebens. nicht einen gedanken hatte ich daran verschwendet, wie meine äußere erscheinung auf andere wirken möge. und auch dr. brodesser war sie nicht eines kommentares wert. schwester hildegard verließ raschen schritts den raum und kehrte sogleich mit einem taubenblauen seidenschal zurück. den borg ich dir, kind und morgen telegrafier ich nach deinen eltern, damit sie dir etwas eigens schicken können. in der ecke hatte ich eine waschgelegenheit entdeckt, ein schmales porzellanbecken, darüber eine ablage für zahnbürste und dergleichen. ein spiegel aber fehlte. ich wusch mir die hände und benetzte mein gesicht. dann band ich mir den schal um den kopf gleich als einen turban, schlüpfte in meine pantoffel und schritt in meinem nachtkittel stolz wie ein beduine aus dem zimmer.
nichts in dem großen würdigen hause erinnert an das christfest. kein zweiglein, keine englein wie sie meine mutter so gern überall in der stube herum stellte, große als kerzenträger, kleine hölzerne oder auch aus porzellan, fliegende hölzerne mit wattehaaren, welche an tannenzweigen schwebten. der schönste aber thronte jedes jahr auf seinem ehrenplatz hoch droben auf der spitze unseres christbaums.

im speisesaal saßen sieben personen, fünf männer und zwei frauen. sie sprachen nicht, sie bewegten sich nicht einmal, saßen stumm an einer großen tafel. auch hier ein alles dominierendes weiß, die stühle, das tischtuch, die teller, die trinkbecher und selbst die serviettenringe. der raum war vollkommen schmucklos, keine kerzen, keine bilder an den wänden, nichts, was die patienten in ihrer genesung hätte ablenken können, in ihnen düstere ahnungen anstoßen oder dergleichen unvorhergesehener dinge, welche das konzept des dr. brodesser störten. nur die weißen gardinen und ebensolche vorhänge schienen gestattet, diensten womöglich dazu, die welt vor den fenstern ebenfalls in ein alles verschluckendes weiß zu tauchen.

schwester hildegard führte mich wortlos zu dem einzigen freien stuhl an der stirnseite des tisches. ich setzte mich zwischen einen gelbbleichen zittrigen greis und einer üppigen matrone mit hochroten wangen, faltete meine hände in den schoß und starrte genau so stumm wie alle anderen auf das tischtuch vor mir, in der hoffnung, es handele sich um ein tischlein-deck-dich, auf das man nur lange genug schauen muss und es erscheinen einem die fantastischsten speisen. doch nichts geschah.

messer und gabel fehlten und neben dem teller lag bloß ein löffel, so dachte ich denn, es gebe wohl suppe oder einen griesbrei. und da war auch schon ein klappern zu hören, so wie es klappert, wenn edda, unser dienstmädchen mit dem servierwagen vorfährt. und wirklich, auf dem wagen standen drei große schüsseln, dampfend und wie war ich erstaunt, als ich sah, was sie enthielten: in der einen dampften salzkartoffeln vor sich hin, in einer zweiten purzelten erbsen und runde möhrchen rföhlich durcheinander und in der dritten war ein gar köstlich duftendes gulasch.

die servierschwester war jung, kaum älter als ich selber. Ihre flachsblonden haare waren zu schnecken um den kopf geflochten, darüber trug sie ein keckes häubchen. ihre beine waren kräftig vom vielen laufen, die strümpfe, wie alles hier, weiß, weiß das gestärkte kittelchen, weiß auch das steife schürzchen, welches sie straff um ihre unwahrscheinliche taille gebunden hatte. zu gern hätte ich sie berührt. wie sie mir nahe ist, erst die kartoffeln auf den teller, dann kullert das gemüse – sie schaut mit kulleraugen – und zuletzt, da lächelt sie und gibt mir zweimal vom gulasch und lächelt wieder und schaut und kullert und ich möchte sie greifen, ihre knie küssen, ihre hände, die den schöpflöffel halten, mit der zunge die zarten knöchel ertasten unter dem sprenkel von sauce, ihren bauch an meinem, die zarten knospen ihres busens spüren, wie sie fest werden, den hals schmecken. und sie geht weiter zu dem tattergreis und lächelt, lächelt durch ihn durch, es ist mein lächeln, meins, meins, meins. nur für mich.

jetzt ist sie fertig. die schüsseln stehen auf dem servierwagen. sie sind leer. man hat strenge regeln. dies ist ein geordnetes haus. jede störung bedeutet schaden für den patienten. die seele ist ein empfindliches organ. es braucht schonung. ein gong sagt, ihr dürft essen. die messer und die gabeln, es wird sie nicht geben. alles ist zum schutze der patienten.

so essen wir schweigend. alles ist schweigen. und der schnee draußen in der weihnachtsnacht, der schluckt alles, was sonst hätte klingen können. und mit den pantoffeln, da machen meine tritte keinen laut, nicht auf der treppe, nicht auf dem gang und nicht im zimmer. und ich nehme das tuch vom kopf und spüre, wie sie wachsen, die haare, sie sind hart und rauschen in meiner handfläche. schwester hildegard bringt einen nachttopf und einen becher wasser und dann schließt die tür und der schlüssel dreht im schloss, ganz schnell und ich bin wieder allein mit der stille.

noblesse horizontale

ein callgirl erinnert sich

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

vielen dank.
vielen dank.
immekeppel - 19. Mär, 19:09
virtuoses vorspiel. macht...
virtuoses vorspiel. macht spass.
waschsalon - 19. Mär, 16:36
pausen mach ich immer...
pausen mach ich immer jede menge, hatte inzwischen...
immekeppel - 23. Feb, 20:25
freut mich sehr, dass...
freut mich sehr, dass es gefällt
immekeppel - 23. Feb, 20:23
danke DIR NOCH MEHR
beeindruckend und toll geschrieben.......
roman libbertz (Gast) - 23. Feb, 15:48

Popups

alle Links auf der aktuellen Seite in einem neuen Fenster öffnen 

Mein Lesestoff

Gesehene Filme

Musikliste

Status

Online seit 6535 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 19. Mär, 19:09

Credits

Suche

 

statistik für's ego


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren