Mittwoch, 21. Juni 2006

ferien

Rebecca war tot. unwiderbringlich verloren. hatte sich gerichtet, ihre unschuld wiederhergestellt. dies ereignis bescherte uns vorzeitige weihnachtsferien, ein bitteres geschenk, welches lange schatten warf, eine dunkelheit, die zu schwer auf mir lastete als dass ich sie lange ertragen hätte können. so saß ich schwermütig herum, aß nicht, sprach nicht, bedauerte meine freundin und vor allem aber mich selbst. biss mir die fingernägel ab und schor mir das haupt, verbrannte nägel und haare und rieb mir die asche über bauch und brust. drei tage später brachten meine eltern mich in ein krankenhaus. ein privates sanatorium unter der leitung eines gewissen dr. immanuel brodesser, einer unbestrittenen koryphäe auf dem gebiet der gemütskrankheiten.

so ward ich wieder der obhut fremder kräfte übergeben, die sich meiner charakterformung anzunehmen hatten, auch diesmal gegen ein passables entgelt. und wieder waren es über wohl und wehe wachende schwestern, mit adrett gesteiften hauben und wehenden weißen kitteln, durch einen unsichtbaren tränenschleier blickte ich hier ein zerrbild meiner selbst, die gruft jedoch nicht schwarz gedeckt sondern von einem hellen gelbton. die bettstatt im zentrum, ein lichtes weißlackiertes gestell aus metall mit einer festen matratze darauf, einer ebenso hellen decke, doch ohne nur ein einziges kissen, dafür mit ledergurten ausgestattet, zum schutz des personals, so hieß es, und vor allem der gäste vor sich selbst.

alles, was ich für meinen aufenthalt brauchte, (von dem ich allerdings nicht wusste, wie lange er währte) hatten meine eltern mir in einen großen, grünen lederkoffer gepackt. ein paar einfache nachtkittel aus grobem leinen und ebensolches unterzeug, wollene socken, filzpantoffel, eine graue strickjacke, meinen alten blassblauen morgenrock, den meine mutter am kragen schon mit gelbrosa flickwerk ausgebessert hatte - einen neuen zu besorgen war ich ihnen in meinem zustande wohl nicht wert - dazu ein einfaches, dunkelrotes samtkleid mit weißem spitzenkragen, ein paar weiße kniestrümpfe und schwarze lackschuh für den sonntäglichen kirchgang, darauf zu achten, dass ich diesen wieder aufnähme sobald es meine gesundheit zuließe war ärzten wie pflegepersonal von meinem vater dringlichst an herz gelegt worden:„buße tun, sie muss buße tun. wie soll sie sonst je wieder ihren frieden mit gott finden?“ und natürlich die kleider, welche ich trug, als ich gekommen war: unter einem schwarzen boucléecape ein graues winterkostüm aus wadenlangem rock und taillierter jacke, dazu eine schlichte weiße seidenbluse, ebensolche strümpfe und mein bestes unterzeug. wenigstens das hatte ich unter den wachsamen augen des elterlichen personals auf diese weise noch herausschmuggeln können. ich verstaute alles sorgsam in dem großen eichenschrank meines zukünftigen appartements und nun saß ich auf dem einzigen stuhl und wartete darauf, dass man mich dr. brodesser vorstellte. noch heute, so hatte er meinen bekümmerten eltern versprochen, würde er mich in augenschein nehmen.

jemand spielte klavier. dumpf klang es durch meine tür. ich öffnete sie – nicht verschlossen? und der raum füllte sich mit walzerklang, fröhlich kreiselte es durch die luft, lachen stieg hinauf, dann stimmen und klackern und wieder lachen und kreiseln.

„fräulein von d?“ da ist eine hand. ich nehme sie. „gestatten, dass ich mich vorstelle. ich bin schwester hildegard. kommen sie.“ musik. füße. die hand „dr. brodesser möchte sie kennenlernen.“ die hand befreit sich aus meiner. immer noch stehe ich bei der tür inmitten der musik. jemand hat vergessen, meinen mechanismus aufzuziehen. dann ist die musk verstummt. und wieder stehe ich vor einer tür. schwester hildegard klopft daran. dann geht die türe auf und ich hindurch und das zimmer hinter dieser tür hat mich geschluckt. dr. brodesser!

ein großer kopf vor einer holzgetäfelten wand, darüber ein porträt des selben kopfes – da war er noch ein wenig jünger, doch die haare sind gleich und auch die brille scheint die selbe nur die augen schauen anders, schauen mich, schauen durch mich, schauen an mir auf und ab dann sagen sie dem mund, er soll lächeln und dann sprechen und den mund sagt: „herzlich willkommen, junges fräulein.“ und dann lächelt er weiter, während die augen noch schauen, aber ohne brille. die liegt jetzt vor dem kopf auf einem schreibtisch, einem, wie ihn eine sehr wichtige person aufzustellen pflegt, mein vater zum beispiel. nun da liegt also die brille und schaut und kann nicht lächeln und ich kann nicht lächeln und mein mund will gar nichts sagen, doch dann tut er’s einfach und spricht, sehr leise: „guten tag“

und jetzt liegen da auch hände auf dem schreibtisch, große hände. bestimmt kann man damit gut klavier spielen und vielleicht auch führen beim walzer oder anderen tänzen. und untersuchen und tasten und messen und zusammen mit den augen herausfinden, was dem kranken fehlt. und der mund, der mich begrüßte, spricht weiter, spricht freundlich: „sie sind traurig, das hat ihr herr vater mir erzählt. ihre freundin ist...“ und ich schaue und mein mund zittert und die augen sehen nicht du der mund spricht weiter „nun, sie waren zugegen,. als ihre freundin freiwillig aus dem leben ging. sie müssen nicht darüber sprechen, wenn sie nicht wollen. noch nicht. aber ich würde gerne ein paar dinge über sie erfahren. sie sind oberschülerin? darf ich fragen, wie alt?“

„ich werde 18. am 16. januar.“

„dann machen sie jetzt ihr matura?“

„ja, das heißt...“

„wir werden sehen“ und dann will er, dass ich mich frei mache, bitte auch das leibchen und ein kaltes stethoskop saugt sich fest an meinem rücken. ich soll atmen und noch mal und tief und jetzt nicht und dann vorne und ich atme schneller, da ist es wieder, dieses gefühl, welches schuld ist an meinem zustand und der doktor blickt ernst und schüttelt den kopf und horcht und sagt „bitte jetzt nicht atmen“ und „das herz, es ist das herz. es flattert“. dann will er meine zunge sehen und mein mund ist trocken und die zunge blass und schleimig und ich brauche diät, am besten gleich. und schonung. und bäder. ja, es sei das herz. und auch der magen. Ich brauchte jetzt ruhe und gleich käme schwester hildegard und nähme etwas von meinem blut. und dann leuchtet er noch mit einem lämpchen in meine ohren, zieht mir die augenlider hoch und runter und leuchtet mich ein wenig blind und dann tanzen flecke im zimmer und da ist sie wieder, die musik. und der doktor, der ist ein großer mann, mit musikalischen händen und seine beine, die würde ich gern versuchen, wie sie tanzen können...

schwester hildegard holte mich ab und führte mich durch ein gewirr von korridoren zu einer weiteren tür. das labor. in meiner fantasie waren labore stets orte einer ansammlung seltsamer gerätschaften und elexiere, und in einer fernen ecke rußte ein öllicht. Dieser raum hier war weiß. weiß die fliesen auf dem boden und weiß gekachelt auch die wand. weißlackierte tür- und fensterrahmen, ein weißer ölanstrich über decke, wandfries und stuckarbeiten. Eine weiße pendelleuchte, weiße schränke. und hätte schwester hildegard nicht ihr gesicht getragen, der raum hätte sie geschluckt. und auch die pritsche, auf welcher ich platz zu nehmen gebeten wurde, war mit einem weißen leintuch bedeckt.

schwester hildegard holte einen ledergurt aus ihrer tasche, den band sie mir fest um meinen linken arm. sie bat mich, eine faust zu machen, träufelte etwas alkohol auf einen tupfer, benetzte meine armbeuge, um sie dann sanft und lange zu streicheln. blau quoll ihr die ader entgegen. wie von zauberhand stach plötzlich eine nadel und der rote saft floss reichlich in die bereitgehaltene kanüle.

„hier, nehmen und fest drücken“ ich nahm den tupfer und presste und dann durfte ich aufstehen und die schwester begleitete mich zurück auf mein zimmer. „abendbrot um sechs“ sagte sie noch. dann schloss sich die tür. der schlüssel drehte im schloss und ich war allein. ich zog meine kleider aus und schlüpfte in einen der nachtkittel. ich hatte ferien, ich war hier und legte ich mich auf mein bett und überlies mich meinen gedanken. ich starrte an die decke, lidschlaglos, bis die augen schmerzten, biss meine lippen, schmeckte warmes metall, der blick verschwamm, die augen wurden nass und ich weinte, und biss mich und die tränen machten mein gesicht nass, das kissenlose bett und fielen und draußen fing es leise an zu schneien: weihnachten
BlogBar - 22. Jun, 21:46

Ich finde es faszinierend

welche Stimmungen Du erzeugen kannst...auch diese "altmodische" Wortwahl finde ich sehr gelungen!

Liebe Grüsse

Lulu

immekeppel - 23. Jun, 12:13

danke

liebe lulu,

es freut mich sehr, dass dir meine geschichte gefällt, auch wenn sie nichts von der üblichen "leichtigkeit" hat. wollte einfach mal was ganz anderes ausprobieren. bin selber gespannt, wie das noch wird

beste grüße
m.

noblesse horizontale

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danke DIR NOCH MEHR
beeindruckend und toll geschrieben.......
roman libbertz (Gast) - 23. Feb, 15:48

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